In einem kleinen Dorf am Ubangi

Das Leben in unseren Außenstationen entlang des Ubangi-Flusses spielt sich gemächlich ab: Fischfang und Feldarbeit verschaffen das zum (Über-)Leben Notwendige. Es gibt einen Dorfchef mit mehreren «Unterchefs» an seiner Seite. Ein Schulgebäude existiert nicht; unser Katechet J. unterrichtet Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse unter einem Dach aus Palmzweigen. Ein Gesundheitsposten befindet sich im Bau, ein Dorfgesundheitshelfer ist vor Ort, aber er besitzt weder ein Fieberthermometer noch ein Blutdruckmessgerät noch eine Waage, und Medikamente gibt es kaum.

Als die Lage 2017 in unserer Gegend besonders gewalttätig war, wurde das Dorf ein wichtiger Stützpunkt der Anti-Balaka-Milizen.

All diese Koordinaten lassen erahnen, dass Friede und Sicherheit in solchen Dörfern auf sehr wackligen Beinen stehen.

Und so erfuhren wir vor einiger Zeit, dass es Unruhe gab in unserer Kapellengemeinde. Die Gemeinderäte hatten den Katechisten abgesetzt. J. sei der Hexerei überführt worden.

Alles begann vor einem Jahr. Da kam einer der Dorfchefs mit seiner 13 jährigen Tochter M. zu uns nach Mobaye. Sein Kind leide schon seit langer Zeit immer wieder an Anfällen: Stürze zu Boden, Konvulsionen, Schaum vor dem Mund. Das klassische Bild der Epilepsie. Sie hätten es mit traditioneller Medizin versucht – ohne Erfolg. Wir haben den Vater mit seiner Tochter zum Ausschluss anderer Krankheiten in unser Krankenhaus geschickt. Dort bestätigte der Arzt unsere Diagnose «Epilepsie», und das Mädchen wurde in unser kleines Projekt zur Unterstützung von daran erkrankten Kindern aufgenommen. Wir haben begonnen, sie mit dem Medikament «Phenobarbitol» zu versorgen, der Standardbehandlung unter unseren eingeschränkten Bedingungen. Ein Routinefall. Dachten wir.

Nun passiert es bei knapp 10% der Betroffenen, dass trotz der Einnahme des Medikaments Rückfälle vorkommen. So war es auch bei M. Manchmal wurde sie nachts von Anfällen geschüttelt.

Nach knapp einem Jahr war für die Familie klar: Die Tabletten nützen nichts, da muss noch mehr im Spiel sein…

Wer M. schließlich zu einem «General» der Anti-Balaka-Rebellen, die an einigen Orten noch weiterhin ihr Unwesen treiben, gebracht hat, wissen wir nicht wirklich. Fest steht, dass der Mann dem Mädchen dort irgendwelche «yoro» (Sammelbezeichnung für moderne, traditionelle oder «magische» Medikamente) in die Augen spritzte, damit sie den Hexer sähe und benenne, der sie krank mache. Und so habe M. dann – angeblich – den Namen unseres Katechisten J. und den eines alten Mannes im Dorf ausgesprochen.

Der Balaka-General hat dann das «Ergebnis» in das Dorf geschickt. Diese «Diagnose» musste die Familie mit umgerechnet 15 Euro bezahlen.

Widersprochen hat dem niemand, und für die Verantwortlichen unserer Außenstation war klar, dass J. seinen Dienst nun nicht mehr ausüben könne, bis er sein diabolisches Tun beende und zwischen ihm und dem Vater des Kindes ein «Versöhnung» stattgefunden habe. In der Zwischenzeit hatten sie den Chorleiter, einen jungen Mann, als Katechisten eingesetzt.

Da passte es gut, dass wir seit langem einen Besuch in dem Dorf mit unserer mobilen Klinik geplant hatten.

Unsere mobile Klinik im Einsatz

Schon im Voraus hatte ich einen Brief geschickt und unsere Gemeinderäte gebeten, sich um 15 Uhr zu einer Krisensitzung einzufinden.

Nun ist es in der hiesigen Kirche so geregelt, dass die Dorfkatecheten aus den eigenen Reihen von ihrer Gemeinde ausgewählt werden. Um ihren Dienst aber antreten zu können, brauchen sie die Zustimmung des verantwortlichen Pfarrers. (Im Vergleich zu Deutschland wird das hier sehr «locker» geregelt; dort braucht es für Gemeinde- und Pastoralreferenten – Referentinnen gibt es bei uns ja nicht! – die Beauftragung des Bischofs!). Das heißt für unseren konkreten Fall, dass die Gemeinderäte überhaupt nicht das Recht hatten, J. von seinem Dienst zu entbinden, ganz unabhängig von der Begründung, mit der sie das taten, nämlich dem Hexereivorwurf.

Um 16 Uhr haben wir mit unserem Treffen begonnen. Mit ganzer Wucht brach der Glaube an Fluch und Magie hervor, der Herz und Verstand fast aller Menschen in den Dörfern beherrscht. Besonders schwer wiegt immer die Angst vor einem Schadenszauber, der auf einer Familie laste. Und so nennt man mir vier Personen, die in den letzten zwei Jahren in eben dieser Familie verstorben sind.

Ja, es stimmt: Morbidität und Mortalität, Kranksein und Tod betrifft viele Menschen. Aber ist das verwunderlich, wenn es kaum medizinische Hilfe gibt, und zur Deutung der Ereignissen keine Bildung zur Verfügung steht?

Eine der vier zitierten Todesfällen betraf eine Frau, die an Blutsturz nach der Geburt ihres elften Kindes starb. Wahrscheinlich hatte sich die Gebärmutter nicht wieder zusammengezogen. Ein bösartiger Fluch, der auf der Familie lastet? Oder das unglückliche Zusammenspiel von zu rasch aufeinanderfolgenden Geburten, dem Fehlen einer medizinischen Grundversorgung und einer Kosmologie, die Krankheit in Beziehung zu Magie setzt?

Dasselbe Szenario im Falle der Epilepsie. Böse Geister, geschickt von einem Hexer, die das Kind immer wieder zu Boden werfen? Oder überschießende neurologische Aktivitäten im Gehirn, die sich mehr oder weniger gut behandeln lassen?

Ich habe versucht, der traditionellen Sicht auf Welt und Leid eine andere entgegenzusetzen: die christliche und die heilende. Vertrauen auf Gott und auf eine Medizin, die zugegebenermaßen ihre Grenzen hat.

Natürlich bin ich nicht der erste, der das versucht. Missionarinnen und Ärzte haben das vor mir getan. Aber Weltbilder ändern sich nicht von einem Tag auf den anderen, das braucht Generationen!

Und so blieb mir nichts anderes übrig, auch die «Autoritätskarte» zu ziehen, um dem «Unschuldigen» zu seinem Recht zu verhelfen: J. ist und bleibt Euer Katechet! Den Chorleiter, den ihr eingesetzt habt, können wir gern auf Probe als zweiten Katecheten behalten. Aber für alle ist es wohl besser, dass wir uns jetzt wieder «vertragen».

Eine Schlüsselfigur in der ganzen Angelegenheit, der Vater des Mädchens, war Gott sei Dank sehr einsichtig, ich würde sogar sagen, erleichtert. Er zeigte sich bereit, die Behandlung seiner Tochter mit Phenobarbitol wieder aufzunehmen, und zu akzeptieren, dass es selbst damit immer mal wieder zu Rückfällen kommen kann.

Am nächsten Morgen haben wir Gottesdienst gefeiert, mit einem symbolischen Akt der Vergebung und Versöhnung zwischen dem Vater und unserem Katecheten.

Alles hätte damit sein gutes Ende finden können. Hat es aber nicht.

Fortsetzung folgt


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